Es geht um 1316 Meter Mauer. Aber eigentlich geht um das Gesicht einer Stadt, um Identität und Geschichte. Doch der Reihe nach:
Berlin wird oft nachgesagt, niemals zu sein sondern immer zu werden. Und tatsächlich hat die Stadt ihr Gesicht grundlegend geändert, seit ich Anfang 1999 hierher gezogen bin: Straßenzüge, in denen seit den Tagen des Zweiten Weltkrieges die Zeit stillgestanden zu sein schien, beeindrucken heute durch ihre frisch renovierten Fassaden. Abbruchhäuser verschwinden aus dem Stadtbild – ebenso die Brachen.
Die Zahl der Touristen hat sich in dieser Zeit mehr als veranderthalbfacht. Das alles führt zu Veränderungen: Geheimtipps von einst sind heute fest in touristischer Hand, die Szene zieht weiter. Ohne diese Dynamik wäre Berlin nicht das, was es heute ist: Eine junge, kreative Kultur-Metropole in der globale Trends entwickelt werden und von der die ganze Welt spricht*.
Wie in keiner anderen Großstadt bietet sich mitten im Herzen von Berlin die Möglichkeit, die Stadt neu zu erfinden und weiterzuentwickeln. Am Potsdamer Platz, am Werderschen Markt, rund um den Alexanderplatz und am Hackeschen Markt ist in den letzten 15 Jahren viel Neues und zum Teil auch Beeindruckendes Entstanden. Andere Areale – zum Beispiel rund um den Hauptbahnhof – warten noch darauf, entwickelt zu werden.
Gleichzeitig sieht man in der Stadt überall Touristen, die vor allem auf der Suche nach der Geschichte Berlins sind: Wo stand die Mauer? Wo befand sich der Todesstreifen, der Führerbunker, die Reichskanzlei? Von der Mauer ist nicht viel übrig geblieben. Noch bevor man sich über ein Gedenkkonzept Gedanken machte, war das meiste schon beseitigt.
Das längste heute noch erhaltene Stück der Berliner Mauer ist die East Side Gallery. 1990 von einer Reihe internationaler Künstler gestaltet steht sie mit ihrer Umwidmung von einer menschenverachtenden Grenzanlage zu der vielleicht größten Freiluftgalerie der Welt sinnbildlich für den Wandel Berlins.
Gleichzeit steht sie als Symbol für einen Bezirk, der an beiden Seiten des Spreeufers mit seinen Bars, Clubs, Ateliers, Start-Ups, Probenräumen und nicht zuletzt Parks Wiege der Erfolgsgeschichte der Stadt ist. Ein Ort an dem Ideen entwickelt, Trends geboren und Touristen verzaubert werden.
Für die wirtschaftliche Entwicklung Berlins ist es unumgänglich, Freiräume für Subkultur und Kreativität zu schaffen (bzw. zu erhalten). Es ist das einzige Pfund mit dem die Stadt wuchern kann. Dabei muss man kein Problem mit Luxuswohnungen haben, um eine Bebauung des Uferstreifens abzulehnen. Denn dort, wo das Ordnungsamt beginnt, Lärmmessungen durchzuführen, ist die Kreativität bereits gestorben.
Heute Nachmittag konnte ich an der East Side Gallery kurz mit Jörg Weber von der Künstlerinitiative East Side Gallery e.V. über den Protest sprechen. Ein Statement von ihm habe ich auf YouTube hochgeladen. Am Sonntag findet ab 14 Uhr eine Demo zum Erhalt der East Side Gallery statt. Kommt alle!
PS: Ich werde nie vergessen, wie ich nach einer durchfeierten Nacht bei der Loveparade 1996 morgens um 7 Uhr im Taxi entlang der East Side Gallery fuhr. Damals wohnte ich noch nicht in Berlin. Mein Herz tanzte.
tl;dr: Die East Side Gallery steht auch für die kreative Szene Berlins. Sie ist zu einem Sinnbild für den Wandel der Stadt geworden und darf nicht dem Abriss zum Opfer fallen. Der Uferstreifen muss öffentlich bleiben.
*Wer das nicht glaubt, dem empfehle ich einen Blick in die Augen eines der nicht gerade wenig von sich selbst überzeugten New Yorkers, während man ihm mitteilt, dass man in Berlin lebt.