Das hat es in der Nachkriegsgeschichte noch nicht gegeben: Mit 100 Prozent der Stimmen (bei drei ungültigen Stimmzetteln) wurde Martin Schulz zum Vorsitzenden der SPD gewählt. Der Leidensdruck der gebeutelten Sozialdemokraten ist inzwischen so hoch, dass sie beseelt durch gute Umfrageergebnisse ihrem Kandidaten bis zur Selbstaufgabe folgen. Und genau das ist das Problem. Doch der Reihe nach.
Vom #Trumptrain zum #Gottkanzler
Bei Verkündung des Kandidaten Schulz sah das alles noch anders aus: Einflussreiche Sozialdemokraten machten ihrem Ärger offen Luft, sprachen von „Projekt 18“ und ärgerten sich über die „alten Männer„, die das Amt untereinander ausgeküngelt hätten, anstatt zum Beispiel auf eine junge Frau zu setzen.
Geschuldet war dieser Ärger auch der Tatsache, dass die Kandidatur nicht wie üblich in den Parteigremien besprochen, sondern via Stern verkündet wurde.
Doch dann kam „The Schulz“: Ganz im Stile Donald Trumps und nicht ungeschickt wurde über die Internetplattform reddit ein Internet-Hype entfacht. Aus „The Donald“ wurde „The Schulz“ und der „Trumptrain“ wurde zum „Schulzzug„. Innerhalb kürzester Zeit schaffte es ein kleines Team von Aktivisten so tatsächlich, eine gewisse Dynamik für den Kanditen zu entfachen.
Als nur wenige Tage später die Umfragewerte nach oben gingen, wurde Schulz schließlich zum „Gottkanzler“ (sic!) und die Statue von Willy Brandt in der SPD-Parteizentrale beiseite geschoben um Platz für den ersten Auftritt des Kandidaten zu machen.
Was dann folgte war ein Lehrstück in Sachen Populismus: Kein ernst zu nehmender Politiker hatte Schulz je wegen seines fehlenden Abiturs oder seiner Alkoholkrankheit angegriffen, was ihn jedoch nicht davon abhielt, das in seiner Rede zu suggerieren. Und als wäre er als dienstältestes Präsidiumsmitglied und Europaabgeordneter nicht eine tragende Säule des politischen Establishments, prangerte er politisches Versagen und eine wachsende Ungerechtigkeit an. Gefühlte Wahrheiten.
Schulz gefährdet Zukunftsfähigkeit seiner Partei
Noch nie in der Geschichte der wiedervereinigten Bundesrepublik waren die Deutschen so zufrieden wie heute. Schulz möchte davon freilich nichts hören. Frei von Mandat und Regierungsamt begibt er sich in die außerparlamentarische Opposition und malt das Bild einer tief gespaltenen Nation, in der politisch vieles im Argen liegt und Ungerechtigkeit an der Tagesordnung ist. Dabei setzt er sich rhetorisch vom Handeln der Bundesregierung ab. Zur Erinnerung: Die SPD gehört 15 der letzten 19 Jahre der Bundesregierung an.
Mehr noch geht er auf Abstand zu den Hartz-Reformen indem er milliardenschwere Nachbesserungen fordert. Nachbesserungen an jenem Programm, das die Sozialdemokratie bis heute tief spaltet. Dummerweise sind es genau diese Reformen, die für das heutige gute Standing Deutschlands mitverantwortlich sind. Mit seiner Kritik positioniert sich Schulz rückwärts gewandt und wenig progressiv. Gut für die sozialdemokratische Seele, schlecht für die Zukunftsfähigkeit der Partei.
Nichts als Plattitüden
Und sonst? Nichts! Dass er bei seinem ersten Auftritt bei Anne Will ganz offensichtlich noch nicht ganz in deutscher Innenpolitik bewandert war – geschenkt. Dass er es nicht lassen konnte, sich eben in dieser Sendung mit Obama zu vergleichen – geschenkt. Dass er bis heute immer wieder mit falschen Zahlen hantiert – geschenkt.
Doch wofür steht Kandidat Schulz dann? Wer sich durch die immer gleichen Plattitüden seiner Reden gekämpft hat, dem klingeln spätestens nach dem zweiten Mal die Ohren.
Auch die Kandidaten Steinmeier und Steinbrück wurden am Anfang bejubelt, Umfragen wurden im Minutentakt gepostet und die endgültige Ablösung von Angela Merkel proklamiert – dieses Mal aber echt. Wie schlimm aber muss es um eine Partei stehen, dass sie Schulz ohne jegliche Inhalte zum Messias ausruft?
All dies wird auch bei den leider vollkommen nichtssagenden Tweets von Schulz ersichtlich:
Deutschland ist nicht nur Berlin. Wir leben hier auch in mittleren Städten und in kleinen Dörfern. Überall muss man gut leben können!
— Martin Schulz (@MartinSchulz) 27. Februar 2017
Frauen sind keine Minderheit. Das wird auch für die SPD-Ministerinnen in meinem Kabinett gelten.
— Martin Schulz (@MartinSchulz) 8. März 2017
Im Mittelpunkt meiner politischen Anstrengung wird immer stehen, dass jeder in Deutschland Arbeit bekommt und in Würde davon leben kann.
— Martin Schulz (@MartinSchulz) 15. Februar 2017
Der Hype frisst seine Kinder
Nun bin ich ersichtlich kein Schulz-Fan und habe so meine Probleme mit übertriebenem Personenkult. Ich unterstütze Angela Merkel, halte Plakate hoch und verteidige sie in Diskussionen. Ich bin von ihrer Haltung überzeugt und das lasse ich andere auch merken. Jedoch: Als Barack Obama damals an die Siegessäule und ans Brandenburger Tor gekommen ist, habe ich mir das nur aus der Ferne angesehen. Auch der Kult um KT zu Guttenberg war mir immer eher unheimlich.
Das Problem: Politiker können derart überzogene Hoffnungen nicht erfüllen. Und auf nicht erfüllte Hoffnungen folgen Enttäuschung und Verbitterung. Schulz feuert mit seiner Gerechtigkeitsrhetorik die sozialdemokratischen Wärmestuben an. Statt endgültig Frieden mit den Hartz-Reformen zu schließen reißt er alte Wunden wieder auf. Das fühlt sich momentan gut an, verlängert aber das Leiden.
Bis dahin können die Genossen aber noch ein paar mal Martin rufen!
Lesenswerte Artikel zu Martin Schulz:
FAZ: Gefühlt ist er schon Kanzler
Anne Will hat nur einen Gast und für den rollt sie den roten Teppich aus: Martin Schulz, der Kanzlerkandidat der SPD, nutzt die Gunst der Stunde für eine Lehrstunde in Populismus, wie man sie so noch nicht gesehen hat.
Stern: Der Gottkanzler ist nackt
Die SPD ist geradezu berauscht von Martin Schulz, der den Genossen mit seiner inhaltsleeren Predigt am Sonntag die Tränen in die Augen trieb. Das ganze erinnert an den Aufstieg von Karl-Theodor zu Guttenberg.
Bento: Der Schulz-Hype wurde nur von einem kleinem Team ausgelöst, einem sehr kleinen
Wie viele Menschen braucht man, um einen Schulzzug anzuschieben?
FAZ: Wie viel Trump steckt in Schulz?
Der designierte Kanzlerkandidat der SPD stellt Gefühle über Fakten und wettert gegen die „da oben“. Das kommt uns bekannt vor. Wir wagen zum Vergleich einen Blick über den Atlantik.
Spiegel: Die ausgehungerte Partei
Bedürftigkeit ist keine gute Grundlage für eine Beziehung. Trotzdem stürzt sich die SPD auf Martin Schulz wie ein langjähriger Single auf einen heiratswilligen Partner. Was lieben die Genossen so an ihm?
n-tv: Fünf Gründe, warum Schulz überschätzt wird
Die SPD folgt Martin Schulz in derartiger Absolutheit, dass der Rest der Republik nun skeptisch wird: Ist er ein roter Populist? Was will er wirklich? Was ist mit seinen Skandal-Altlasten? Die 100 Prozent könnten der SPD noch schaden.